Hallo lieber Lesestern,
hast du Lust auf eine mehr oder weniger weihnachtliche Kurzgeschichte? Dann bist du hier und heute an der richtigen Stelle! Denn du bekommst genau das. Starten wir also ohne große Vorrede, direkt mit der Geschichte.
Dein Jerry
Irres Weihnachten
Draußen schneit es. Sanft, wie Puderzucker, legt sich der Schnee über die Welt und umhüllt sie, wie eine Decke. Eiskalter Wind trägt die Flocken viele Kilometer weit. Er pfeift durch jede noch so kleine Ritze und bringt die Menschen zum Frösteln. Obwohl die letzten Tage noch perfektes Grillwetter herrschte, scheint es heute am Weihnachtstag, fast so als wolle sich das Wetter beweisen. Jede Flocke und jeder Windhauch scheinen förmlich zu schreien: «Ihr wollt Schnee im Winter?! Dann sollt ihr Schnee haben!»
Bereits nach wenigen Stunden sind sämtliche Straßen unpassierbar. Türen und Fenster lassen sich nicht mehr öffnen und selbst die Stadtverwaltung kommt mit dem Schneeschippen nicht hinterher, da sich ihre Wägen keinen Meter weit bewegen.
In einem großen Haus abseits jedes belebten Ortes haben die Bewohner jedoch noch nichts davon mitbekommen. In dem Gebäude befinden sich einundzwanzig Personen die sich, bis auf eine Ausnahme, alle in einem großen Aufenthaltsraum befinden. Die drei Pfleger der Saint Markus Nervenheilanstalt betrachten ihre Schützlinge skeptisch.
Schwester Margerite ist die Dienstälteste der Pfleger und sie hatte die zweifelhafte Idee, die Patienten mit einem weihnachtlichen Besuch zu überraschend. Doch irgendwie ist ihnen der Weihnachtsmann abhandengekommen.
«Ich frage nochmal, wo ist der Weihnachtsmann?», fragt Hendrik, die rechte Hand der Oberschwester. Wütend blickt er in die Runde und erhält viele verwirrte Blicke.
«Den Weihnachtsmann gibts gar nicht», antwortet ihm ein Mann mit gegerbter Haut und Glatze. Zustimmendes Gemurmel erschallt und sie starren den Pfleger fassungslos an. Hendrik ist bei den meisten Patienten eher unbeliebt, er hat eine kurze Reißschnur und geht zu schnell an die Decke. Weshalb nun auch Margerite wieder das Wort ergreift.
«Natürlich nicht, das wollte Hendrik auch nicht anzweifeln. Aber heute kam ein Mann hier her, in roter Kleidung und mit langem weißen Bart. Wenn ihn jemand gesehen hat, müssen wir das wissen», erklärt sie, während ihr Blick unmissverständlich über die Anwesenden streift.
«Ich hab ihn gesehen!» Die gesamte Aufmerksamkeit richtet sich sogleich auf einen jungen Mann. «Er hatte Hörner und hat Gift gespuckt.»
«Das ist der Teufel Bobby, nicht der Weihnachtsmann», entgegnet Hendrik. Tief seufzend wendet er sich dem dritten Pfleger zu. Einem Mann mit weißblondem Haar und funkelnden Augen. Scherzhaft wird er von den Patienten auch Engel genannt. Während Hendrik nur allzu oft den Spitznamen Dämon erhält.
Der Engel, mit bürgerlichem Namen Erik genannt, hat bisher geschwiegen. Zu lange, wenn es nach Hendrik geht. Andererseits hat er auch wenig Interesse daran, dass sich der Engel wieder bei allen einschleimt. Seiner Meinung nach ist der Mann zu freundlich, um tatsächlich einer von den Guten zu sein.
«Wie wäre es, wenn Margerite und ich uns auf den Weg machen, den Weihnachtsmann zu suchen», fängt das blonde Übel an zu sprechen «Hendrik, befragt die Patienten derweil weiter. Vielleicht fällt ihnen ja noch was ein.»
Damit ist Hendriks Abend dann auch besiegelt. Denn, dass außer ihm keiner das fiese Grinsen des Engels bemerkt, ist er bereits gewohnt. Leider führt das aber auch immer wieder zu beschissenen Situationen, wie dem Kakerlakenvorfall im Sommer. Doch da Schwester Margerite dem Vorschlag begeistert zustimmt und aus dem Raum stürmt, hat sich die Sache ohnehin erledigt. Gemütlich schlendert Erik ihr hinterher und wirft ihm noch einen Blick zu. Irgendwie bekommt Hendrik dabei ein merkwürdiges Gefühl.
Er dreht sich zu den Patienten um und seufzt. Die eine Hälfte, die von denen er sich wenig bis gar keine Hilfe erhoffen kann, schickt er gleich weiter ins Spielezimmer. Dort kann er sie für eine Weile sich selbst überlassen, ehe Krieg und Verderben ausbricht. Die restlichen acht starren ihn mit unverhohlener Neugierde an. Kaum ein Wunder, wenn man bedenkt, dass hier sonst nie was passiert. Abgesehen von dem alltäglichen Wahnsinn.
«Also nochmal von vorne. Hier war vorhin ein Mann in roter Kleidung, nicht der Teufel, und langem weißen Bart.» Aufmerksam betracht er die blassen Gesichter vor sich. «Wer hat ihn gesehen?»
Sieben von acht Händen heben sich. Das ist doch schonmal ein Anfang.
«Seid ihr euch ganz sicher, dass es keine Einbildung war?» Fünf Hände senken sich wieder und die dazugehörigen Blicke wandern ziellos durch den Raum. Übrig bleiben Olaf, der Mann mit der ledernen Haut und Bobby, der den Weihnachtsmann mit dem Teufel verwechselt hat. Bei der Auswahl bleibt er dann auch und schickt die Übrigen ebenfalls ins Spielezimmer. «Wo habt ihr den Mann zuletzt gesehen?»
«Na, im Schwesternzimmer»
«Auf dem Weg in den Keller»
Kommen die Antworten zeitgleich. Beide bringen Hendrik nur wenig, da sie absolut nichtssagend sind. Erneut seufzt er auf und rauft sich die Haare.
«Also schön, machen wir nen Ausflug und sehen uns das an.»
Und schon sind sie unterwegs, mehr oder weniger begeistert. Während sich Olaf schon fast freut, zuckt Bobby bei jedem Geräusch zusammen, was wiederum Hendrik auf die Nerven geht. Er bemüht sich drum, die Nerven nicht zu verlieren, schließlich können sie nichts dafür. Trotzdem ist er froh, im Schwesternzimmer anzukommen. Es ist leer und bis auf die leere Kaffeetasse, die Margerite dem Weihnachtsmann am Morgen gekocht hat, deutet nichts auf seine Anwesenheit. Bobby allerdings murrt beharrlich: «Ich hab ihn hier gesehen, nicht am Morgen. Vorhin erst.»
Also durchquert Hendrik das Zimmer nochmal und sieht sich suchend um. Auch diesmal findet er keinen Hinweis auf den Verbleib des Weihnachtsmannes.
«In Ordnung macht nichts. Dann gehen wir jetzt zum Keller. Olaf, wo genau hast du ihn gesehen?»
Statt zu antworten dreht sich der Mann um und humpelt durch die düsteren Flure. Aufgrund neuester Stromsparmaßnahmen dürfen sie diese tagsüber nicht mehr beleuchten. Selbst dann nicht, wenn es draußen so dunkel ist wie heute. Zur Sicherheit wurden sogar Zeitschaltuhren angebracht, damit keiner 'aus Versehen' das Licht anmacht. Hendrik ärgert sich schon die ganze Woche darüber. Aber heute nervt es ihn ganz besonders. Vermutlich hat sich der Weihnachtsmann in den Gängen verlaufen. Oder er ist eine Treppe runtergefallen.
Ruckartig bleibt Olaf stehen, streckt seinen Arm aus und macht komische gurgelnde Laute. Hendrik klopft ihm sacht auf den Rücken.
«Alles okay mein Freund?»
Olaf nickt zaghaft und deutet erneut auf etwas. Da entdeckt es auch Hendrik. An einem herausstehenden Nagel hängt ein roter Stofffetzen. Vorsichtig macht er den Fetzen ab und zieht den Nagel aus der Wand, es soll sich schließlich keiner dran verletzen.
«Dann gibt es den Weihnachtsmann also doch?», flüstert Bobby und seine Augen wirken so groß wie Teller.
«Nein, Bobby. Genauso wenig wie den Teufel. Der Mann hat sich nur verkleidet.» «Aber warum macht jemand sowas?», Bobby wirkt verstört. Er hebt die Hände, um an seinen Nägeln zu knabbern, doch Hendrik hält ihn davon ab.
«Wir haben darüber gesprochen, wenn du an was knabbern willst dann an einem Keks.»
Schon zieht er sich einen aus der Hosentasche und hält ihm das Gebäck hin. Sofort beruhigt sich Bobby wieder und sie gehen weiter in Richtung Keller. An der Kellertreppe angekommen, sehen sie schon von weitem einen weiteren Fetzen rumliegen. Eilig hebt ihn Hendrik auf und blickt die Treppe hinab. Da niemand am unteren Ende zu sehen ist, ist der Mann schon mal nicht zu Tode gestürzt. Zumindest nicht hier.
«Da hab ich ihn gesehen», flüstert Olaf und deutet auf die Tür am Ende der Stufen. Da vom Treppenabsatz aus nichts zu sehen ist, geht Hendrik vorsichtig runter. Obwohl er kein Angsthase ist, läuft ihm ein kalter Schauer über den Rücken und er muss an das fiese Engelsgrinsen denken. Was erwartet ihn auf der anderen Seite der Tür? Eine fies zerstückelte Leiche? Wieder ein Kakerlakennest? Oder etwas noch Schlimmeres?
Den Kopf schüttelnd greift er nach der Klinke. Er schluckt schwer und schließt für einen Moment die Augen. Mit einem lauten Quietschen öffnet Hendrik die Tür und erstarrt vor Schreck. Sein Blick fällt auf die abscheulichste Szenerie, die er je erblicken musste. Noch ehe er begreifen kann, was vor sich geht, erschallt ein Knall und buntes Konfetti rieselt auf ihn nieder.
Jubelnd und lachend rufen die Bewohner der Saint Markus Nervenheilanstalt: «Alles Gute zum Geburtstag, Hendrik und frohe Weihnachten!»
Schon umarmt ihn Margerite und von hinten klopft ihm Olaf auf die Schulter. Er erkennt den Weihnachtsmann, der sich unversehrt mit Plätzchen vollstopft und wie Erik ihn mit seinem unheimlichen Grinsen besieht.
Ganz ehrlich? Jetzt würde er die Leiche auf jeden Fall vorziehen. Seufzend gesellt er sich zu den Feiernden und versucht die letzten Stunden des Weihnachtsabends zu genießen.